„Revival“ des eigenen Autos?
Lesezeit ca.: 4 MinutenWie verändert die Corona-Krise das Mobilitätsverhalten? Will man sich zum Beispiel mit Fremden in ein Car-Sharing-Mobil setzen? Verschiedene Studien sehen den Privat-Pkw als großen Gewinner der Pandemie – und Technologien für das autonome Fahren.
10. Juni 2020Das sind Schlagzeilen, die man in der Automobilindustrie gerne liest: „In der Krise wächst die Lust am eigenen Auto“, titelte das „Handelsblatt“ Mitte Mai. Und der Berliner „Tagesspiegel“ schrieb, ebenfalls im Mai: „Corona hebt Wohlfühlfaktor des Autos.“ Hintergrund für beide Beiträge sind aktuelle Studien, die einen Wandel der Mobilität im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie untersuchen. Denn das sind derzeit die großen Fragen: Müssen nach der Corona-Krise Mobilitätsstrategien neu gedacht werden? Geschäftsmodelle neu aufgestellt werden? Wollen sich die Menschen mit anderen ein Ride-Sharing-Mobil teilen, wenn man in fast allen Lebensbereichen auf Abstand geht? Eine Branche sucht nach Antworten – Studien von Wissenschaftlern und Automotive-Beratungsunternehmen liefern Orientierungshilfen.
Das Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) hat untersucht, wie sich die Corona-Krise auf das Mobilitätsverhalten der deutschen Bevölkerung auswirkt. Die Forscher interessierten sich vor allem dafür, welche Verkehrsmittel die Befragten in der Krise nutzen und wie wohl sie sich dabei fühlten. „Es ist eindeutig, dass die Corona-Pandemie unser Mobilitätsverhalten grundlegend verändert. Insbesondere die öffentlichen Verkehrsmittel müssen eine Durststrecke überbrücken und brauchen Unterstützung. Vieles weist darauf hin, dass Auto und auch Fahrrad als Gewinner aus der Krise hervorgehen werden", so Prof. Barbara Lenz, Direktorin des DLR-Instituts für Verkehrsforschung.
Wohlfühlfaktor Privatauto
Fast alle Befragten gaben an, sich im Auto wohler oder genauso wohl zu fühlen wie vor der Krise. Das ist bei keinem anderen Verkehrsmittel der Fall. Zu den großen Verlierern gehören alle öffentlichen Verkehrsmittel. Ob Nahverkehr, Fernverkehr, Car-Sharing oder Flugzeug: Die Nutzung bricht ein, Menschen fühlen sich deutlich unwohler bei der Nutzung oder bei der Vorstellung, sie zu nutzen. „Im Kontext der Corona-Krise kann man durchaus von einem ‚Revival‘ des Privatautos sprechen. Das Gefühl der eigenen Sicherheit scheint aktuell die Auswahl des Verkehrsmittels stark zu beeinflussen", so Institutsdirektorin Lenz weiter. „Überraschenderweise vermissen besonders viele junge Städter in dieser Situation das eigene Fahrzeug.“
Zu dem Ergebnis kommt auch eine Studie der Beratungsgesellschaft Capgemini. Erstmals seit Jahren steigt bei der Bevölkerungsgruppe der unter 35-Jährigen das Interesse an einem eigenen Auto wieder. 45 Prozent der jüngeren Kunden, die bislang kein Auto besaßen, überlegen nun, sich in den kommenden Monaten einen eigenen Pkw anzuschaffen. „Individuelle Mobilitätsangebote sind auf dem Vormarsch, also beispielsweise das eigene Auto“, sagte Sebastian Tschödrich, Mobilitätsexperte bei Capgemini, im „Handelsblatt“.
Beliebtestes Fortbewegungsmittel? Das Auto!
Das unterstreicht eine weitere Umfrage der Boston Consulting Group (BCG). Auch hier lag das Auto an erster Stelle der beliebtesten Fortbewegungsmittel. Das bekommen Anbieter von Ride- und Car-Sharing-Angeboten zu spüren. Das Ride-Sharing-Unternehmen Moia zum Beispiel stellte seine Dienste ab 1. April weitestgehend ein – ab dem 25. Mai wurde in Schlüsselmärkten wie Hamburg ein neuer Anlauf gestartet. Ob das gelingt? So gaben in der BCG-Studie 35 Prozent der Befragten an, dass sie kurze Strecken entweder mit dem Fahrrad zurücklegten – oder gleich zu Fuß gingen.
Das sind neue Herausforderungen auch für die Verkehrsplanung. „In Ballungszentren müssen wir damit rechnen, dass öffentliche Verkehrsmittel unter dem Eindruck der Corona-Pandemie noch seltener die erste Wahl der Menschen sein werden, um von A nach B zu kommen“, sagt Gerd Gröbminger, Vice President Sales bei Kapsch TrafficCom, einem Anbieter von Verkehrsmanagement-Lösungen. „Nach ersten Lockerungen sehen wir schon heute, dass das Auto verstärkt genutzt wird. Das Verkehrsmanagement wird schnellstmöglich darauf reagieren müssen.“
Reibungsloser Verkehrsfluss ist große Herausforderung
Die Überlastung der Straßen ist über die Pandemie hinaus eine langfristige Entwicklung: Wichtiger Treiber sind stark steigende Zulassungszahlen. So ist der Pkw-Bestand in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland auf zuletzt 47 Millionen Fahrzeuge bis Ende 2019 gestiegen – das ist ein Plus von 14 Prozent oder 5,8 Millionen Autos. „Wir haben bereits technische Antworten, um einen reibungslosen Verkehrsfluss in Zeiten mit sehr großem Verkehrsaufkommen herzustellen", sagt Gerd Gröbminger. Neben dem effizienteren Auflösen von Störungen ginge es auch darum, die Fahrzeug-Infrastruktur in öffentliche Leitsysteme zu integrieren, Ampeln damit besser adaptiv zu steuern oder Routen intelligent auszuwählen.
Allerdings ist durch die Corona-Krise mit harten Einschnitten zu rechnen. Das bekommen insbesondere Mobilitäts-Start-ups zu spüren, ergibt eine Untersuchung der Unternehmensberatung Oliver Wyman. Während die Newcomer 2019 dank immenser Kapitalspritzen rasch an Reife gewinnen konnten, zeigen sich jetzt erste Anzeichen abnehmender Investitionen. „Es sind zunehmend Autohersteller und große Tech-Unternehmen, die durch den Zukauf von Startups Innovationskraft an Bord holen“, sagt Andreas Nienhaus, Partner bei Oliver Wyman. „Dass diese im Zuge der Corona-Krise das hohe Investitionsvolumen beibehalten werden, wird immer unwahrscheinlicher, denn die Krise trifft insbesondere die Autohersteller hart.“
Social Distancing dank selbstfahrenden Autos
Allerdings gibt es Hoffnung durch Technologietrends wie das autonome Fahren. „Selbstfahrende Fahrzeuge werden zwar zunächst aufgrund der Krise Unterbrechungen bei der Entwicklung sehen, Investitionen könnten krisenbedingt zurückgehen“, heißt es bei Oliver Wyman. „Jedoch gibt es auch große Chancen: Selbstfahrende Autos dürften mit Blick auf ‚Social Distancing‘ gefragter sein denn je.“