Aerodynamik im Automobilbau
Lesezeit ca.: 6 MinutenVerschärfte CO2-Werte, neue Prüfzyklen für Pkws und die Innovationssprünge bei der Elektromobilität stellen Hersteller vor große Herausforderungen. Damit die neuen Fahrzeuggenerationen effizienter werden, rückt die Aerodynamik mehr und mehr in den Fokus der Entwicklungs- und Designabteilungen.
16. Juli 2019Für eine optimale Windschlüpfrigkeit feilen Designer und Entwicklungsabteilungen mit ihren Konzepten und Prototypen vor allem am Luftwiderstandsbeiwert, dem sogenannten cW-Wert. Dieser Koeffizient gibt Aufschluss über die Aerodynamikeigenschaften eines Wagens und ermöglicht den direkten Vergleich unterschiedlicher Fahrzeugklassen. Dabei gilt: Je niedriger, desto weniger Luftwiderstand bietet eine Karosserie. Großen Einfluss bei der Berechnung hat die Stirnfläche des Autos, die während der Fahrt die gesamte Luft verdrängen muss.
Neben dem Luftwiderstand ist die Luftdichte ein wesentlicher Faktor. Sie wird anhand der Temperatur und dem Luftdruck ermittelt. Zu guter Letzt bestimmt vor allem die Fahrgeschwindigkeit den Luftwiderstand. Und der ist auf der Autobahn folglich am höchsten. Bei Vollgas wird fast 90 Prozent des Kraftstoffs dafür verbraucht, um gegen den Wind anzukommen. Ebenso hat aber auch das Thermomanagement mit der Kühlung und Belüftung im Innenraum direkte Auswirkung auf die aerodynamische Gesamtperformance Fahrzeugs.
Der Pinguin – Maß aller Dinge
Auf der Suche nach technischen Neuerungen und Problemlösungen kupfern Designer und Ingenieure gerne bei der Natur ab – die Bionik ist immer wieder Quelle für Inspiration. Der Pinguin gilt als Inbegriff der Aerodynamik: Zwei, drei Schläge ihrer kurzen Flügel, dann gleiten die Antarktisbewohner mühelos durch die Tiefen des Ozeans. Wissenschaftler vom damaligen Kieler Institut für Meeresforschung – Heute Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung – fanden mit dem Bioniker Rudolf Bannasch heraus, dass der Langschwanzpinguin pro Tag mehr als 100 Kilometer zurücklegt. Und das bei einer Größe von nur einem halben Meter. Im Sprint schafft das Tier 25 km/h.
Die Forscher gingen ebenso dem Nahrungsverhalten auf den Grund. Dabei kamen sie zu folgenden Schlussfolgerungen: Würde das Tier Sprit tanken, könnten es mit nur einem Liter 2.500 Kilometer weit kommen. Bannasch unternahm weitere Versuche mit Pinguinmodellen im Strömungsumlaufkanal unter Wasser und im Windkanal. Mit bahnbrechenden Ergebnissen: Der cW-Wert lag im Promillebereich – und zwar bei lediglich 0,03. Die Schifffahrts-, Raumfahrt- und Militärindustrie profitierten noch heute von den Erkenntnissen. Für die Karosserie von Autos hat die nahezu perfekte Stromlinienform des Pinguins bislang keine Nachahmer gefunden. Der Wassertropfen dagegen schon.
Die Wurzeln der Aerodynamik
Die Tropfenform regte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts deutsche Ingenieure an, kuriose Konzeptfahrzeuge zu entwickeln. Berühmte Vertreter sind der Tropfenwagen von den Rumpler-Werken aus dem Jahr 1921 und der Schlörwagen von 1939. Nachmessungen von VW in den 1970er-Jahren bescheinigten dem Rumpler-Exemplar einen cW-Wert von 0,28, dem Schlörwagen nur 0,15. Noch heute übertrumpfen beide Oldies damit aktuelle Modellreihen, allerdings sind die nicht nur „auf „cW getrimmt“, sondern berücksichtigen Vorgaben wie bequemes Einsteigen und das Crashverhalten.
Ein Formel-1-Auto, das nach Aerodynamik in Perfektion aussieht, ist dagegen sprichwörtlich ein Wandschrank auf Rädern. In Sachen Luftwiderstand liegen die schnittigen Rennboliden bei cW-Werten von 0,8 bis 1,2, da hier der Fokus eher auf Kurvengeschwindigkeiten und Fahrstabilität liegt. Selbst ein Lastwagen kommt durchschnittlich auf 0,5 bis 0,85. Der Trailer „Aero Liner „von Krone und die Zugmaschine „Concept S“ von MAN aus dem Jahr 2012 bringen es zusammen sogar auf nur 0,3.
Detailarbeit statt Revolution
Die aktuelle Mercedes A-Klasse hat einen cW-Wert von 0,22 – das macht die Limousine derzeit zum windschnittigsten Serienfahrzeug der Welt. Insgesamt sind die Fortschritte bei der Aerodynamik für die Serie aber schon stark ausgereizt. Die OEMs und Dienstleister sind daher auf der Suche nach dem besten Kompromiss aus Effektivität, Nutzen und Komfortansprüchen. Und so gelingen Optimierungen eher in kleinen Schritten: gewölbte Frontverglasung, versteckte Wischer, plane Unterböden, optimierte Heckkanten, abgedeckte Radhäuser, abgeflachte A-Säulen, Verzicht auf Antennen oder Außenspiegel, aber auch die Durchströmungen von Kühlern und des Motorraumes bieten Ansätze.
Es braucht schon extreme Formen, um den Luftwiderstand in einem nennenswerten Maße weiter zu reduzieren. Das führt wiederum schnell zu Nachteilen im Innenraum und hohen Kosten wie beim XL1: Das 2013 vorgestellte Ein-Liter-Auto von Volkswagen deklassierte die Konkurrenz zwar mit Effizienz und einem cw-Wert von 0,189. Doch den engen Zweisitzer gab es nur als Kleinserie mit 200 Exemplaren – für mehr als 100.000 Euro pro Fahrzeug.
Der Aero-Benz
Nur ein Hundertstel über dem Wert liegt der Mercedes-Benz „Concept Intelligent Aerodynamic Automobile“. Das Konzeptfahrzeug wurde 2015 auf der IAA präsentiert. Es verändert während der Fahrt seine Form und Gestalt. So schaltet der Hybrid manuell per Knopfdruck oder automatisch ab einer Geschwindigkeit von 80 km/h vom Design- in den Aerodynamik-Modus - ein absolutes Novum. Bisher war ein Auto eher ein starres Gebilde ohne Teile, die sich der Fahrsituation intuitiv anpassen – den ausfahrbaren Heckspoiler mal ausgenommen. Bei dem Mercedes wird das Heck um 39 Zentimeter verlängert. Ausfahrbare und bewegliche Lamellenflügel verbessern die Umströmung an Bug und Unterboden. Und auch an den Felgen tut sich was: Das sportliche Fünfspeichenrad wird zu einer vollflächigen Scheibe, sorgt damit für weniger Luftverwirbelungen.
Für den optimalen Luftstrom kauert der IAA Concept mit gerade mal zehn Zentimetern Abstand auf der Straße. Türgriffe gibt es zudem nicht, die Außenspiegel werden durch eine Displayvariante mit Kamera abgelöst. Lag der Wert des Prototypen im Normalbetrieb noch bei 0,25, hat er sich nach der Transformation jetzt auf 0,19 verringert. BMW hat ein Jahr später mit der Konzeptstudie „Vision Next 100“ noch einen draufgesetzt. Neben dem stromlinienförmigen Design sind die Radkästen durch die sogenannte „Alive Geometry“ geschlossen. Eine dehnbare Haut passt sich den Lenkbewegungen an. Daraus resultiert ein Luftwiderstandsbeiwert von 0,18.
Ab in den Windkanal
Nur mit computergestützten Simulationsmethoden wie der numerischen Strömungsmechanik und Fertigungsmethoden wie dem Rapid Prototyping sind solche komplexen Geometrien und aerodynamischen Eigenschaften des Fahrzeugs zu erzielen. Für die Arbeit der Entwicklungsingenieure sind zugleich Prüfstände wie Windkanäle unerlässlich. Hersteller und Zulieferer arbeiten eng mit Wissenschaftlern wie vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) zusammen, um Fahrzeugpartien stromlinienförmiger zu gestalten. Allein am Forschungsstandort der DLR in Göttingen stehen für die Entwicklung von Pkws, Lkws, Jets und sogar Raumfähren 20 Windkanäle und Großforschungsanlagen zur Verfügung. Per Lasermessverfahren können dort Windströmungen simuliert und gemessen werden.
Sportwagenspezialist Porsche verfügt in Weissach über mehrere Windkanäle für Fahrzeuge im Maßstab 1:1 und 1:3, mit oder ohne Straßensimulation. Von einem einfachen Schaumkörper über mit Drucksonden bestückte Modellkühler bis hin zur komplexen Durchströmkarosserie werden hier für die Entwicklung eingesetzt. Mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 300 Stundenkilometern lassen sich verschiedene Komponenten analysieren und dann immer weiter optimieren. Neben Fahrzeugen testen und optimieren hier auch Radrennmannschaften, Schirmhersteller oder Produzenten von Zelten ihre Produkte auf Wind- und Wetterfestigkeit. Und so sind die Grenzen von Aerodynamik und Komfort fließend.