Augmented und Virtual Reality im Auto
Lesezeit ca.: 6 MinutenSehen, Riechen, Schmecken, Hören, Fühlen und der Gleichgewichtssinn – der Mensch verfügt über sechs Sinne. Ohne sie wären wir nicht in der Lage, uns in dieser komplexen Welt zurechtzufinden. Heute sorgen digitale Technologien wie Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) dafür, dass unsere Sinne im Auto um weitere Dimensionen und Informationen angereichert werden.
23. April 2019Bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts war die Idee von der Augmented Reality Wirklichkeit geworden – lange, bevor man die Technologie so genannt hat. 1968 präsentiert der Computergrafiker Ivan Sutherland das allererste „Head Mounted Display“ – eine Urform der Datenbrille, die dem Nutzer dreidimensionale Formen direkt vor die Augen projizierte. Die Aufbauten dafür waren so groß und schwer, dass sie extra an der Decke befestigt werden mussten. AR wurde Anfang der 1990er-Jahre bei Boeing in Form einer Art Datenbrille eingeführt, um die Verlegungsarbeiten von Kabelbäumen in Flugzeugen zu unterstützen. Die AR-Technik wird zudem schon seit Jahrzehnten in Pilothelmen und Cockpitscheiben eingesetzt, um Informationen über das reale Bild zu lagern. US-amerikanische und japanische Hersteller statteten erstmals Ende der 1980er-Jahre Pkw mit der Technik aus und erweiterten damit das Sichtbild des Fahrers um zusätzliche Informationen. Dabei wird auf der Fahrerseite das Bild auf einem Display erzeugt, von einer Lichtquelle ausgeleuchtet und dann mit Spiegeln auf die Windschutzscheibe projiziert. 2005 verbaute mit BMW der erste deutscher Autobauer solche Head-up-Displays (HUD) in seinen Serienmodellen.
Der Siegeszug der HUD
HUD sind heute als Serien- oder Sonderausstattung für verschiedene Pkw-Marken und auch Nutzfahrzeugen zu haben. Abhängig von den verfügbaren Quellen reichen die eingeblendeten Informationen von der Anzeige von Geschwindigkeit, Navigationsanweisungen und Warnungen, wie Überschreiten von Geschwindigkeitsbegrenzungen oder bevorstehenden Gefahren, bis hin zur Angabe von Abstandswarnungen, Tankstand und verbleibender Fahrzeit. 2017 präsentierte Konica Minolta das weltweit erste dreidimensionale HUD. Dieses ist in der Lage, Informationen je nach Fahrgeschwindigkeit in unterschiedlichen virtuellen Entfernungen zu präsentieren. Porsche hat jüngst in das Schweizer Start-up WayRay investiert. Das Unternehmen entwickelt universelle Head-up-Displays, die unabhängig von der Innenraumgestaltung in jedem Fahrzeugtyp eingesetzt werden können. Dabei soll künftig auch der Beifahrer an Informationen in der Windschutzscheibe partizipieren. Neue Features wären der bekannte Nachtassistent als Projektion und statt der Navigationspfeile ein virtuelles Fahrzeugabbild, das sich im Sichtfeld des Fahrers nahtlos in das aktuelle Verkehrsgeschehen einfügt. Die simulierte Vorhut fährt voraus und leitet so zuverlässig ans Ziel. BMW geht bereits neue Wege und holt die erweiterte Realität in den Fahrzeuginnenraum und arbeitet derzeit an dem HoloActive Touch – ein freischwebendes Hologramm mit Bedienelementen auf Höhe der Mittelkonsole, das per Gestensteuerung funktioniert. Wird das HUD also bald selbst obsolet? Mithilfe von AR und VR werden jedenfalls nach und nach klassische Fahrzeugkomponenten entweder digitalisiert oder ganz ersetzt.
Digitale Realitäten
Ingenieure von Jaguar haben beispielsweise mit dem „ClearSight Smart View“ den Innenrückspiegel revolutioniert. Auf Knopfdruck wird dieser zum Bildschirm. Das ermöglicht eine ungehinderte Sicht auf alles, was sich hinter dem Fahrzeug befindet – selbst, wenn Passagiere auf der Rückbank oder Gepäck die Sicht versperren. Der Audi e-Tron dagegen fährt als erstes Auto mit einem virtuellen Außenspiegel. Dort wo sonst die herkömmlichen Spiegel hervorragen, hängen heute zwei aerodynamisch geformte Kameras. Diese übermitteln Live-Ansichten auf zwei OLED-Displays im Innenraum, die zwischen Instrumententafel und Tür angebracht sind. Laut Zulieferer Ficosa erscheint das Sichtfeld breiter und ohne toten Winkel. Die Entwicklung macht selbst vor der Motorhaube nicht Halt. Für das Modell Range Rover Evoque hat Jaguar nach mehreren Jahren Entwicklungsarbeit Ende 2018 den „ClearSight Ground View“ zur Serienreife gebracht – eine Art gläserne Kühlerhaube. Der Clou: Mehrere Kameras am Kühlergrill und den Außenspiegeln filmen den Untergrund. Eine Software generiert aus den Einzelaufnahmen ein Bild zusammen, das auf den zentralen Touchscreen projiziert wird. Die Technik gestattet so einen Blick durch Haube und Motorraum. Von dem System profitiert der Fahrer beispielsweise im Gelände bei der Bewältigung steiler Anstiege, aber auch beim Rangieren auf engstem Raum.
Die Ära der 360°-Cockpits
Wenn man diese Technologien betrachtet, stellt sich die Frage, wann die ersten 360°-Cockpits kommen. Mit dem Projekt „Window to the World“ integrierte Toyota erstmals AR-fähige Flächen in die Fenster der Rücksitze. Diese sollen Mitfahrer auf der Rückbank befähigen, mit dem zu interagieren, was sie durch das Fenster sehen. Die Technologie wurde in Zusammenarbeit mit dem Copenhagen Institute of Interaction Design entwickelt und bietet mehrere Funktionen: Vorbeiziehende Objekte und Landschaften heran zu zoomen, sich Entfernungen anzeigen zu lassen oder Gegenstände in verschiedenen Landessprachen zu übersetzen. Der „Virtual Urban Windscreen“ von Jaguar hat schon vor einigen Jahren einen Vorgeschmack auf eine virtuelle Rundumsicht gegeben: Außenkameras liefern permanent Live-Aufnahmen der Fahrzeugumgebung und machen über hochauflösende Bildschirme die A-, B- und C-Säulen transparent. Egal, ob der Fahrer zum Abbiegen ansetzt, für ein Überholmanöver einen Blick über die Schulter wirft oder an eine Kreuzung gelangt – in Echtzeit werden auf den Säulen der betreffenden Fahrzeugseite Echtzeit-Bilder eingeblendet, die freie Sicht bieten. Der Virtual Urban Windscreen entfaltet sein volles Potenzial jedoch erst mit der Anbindung an eine Cloud oder per Car-to-X-Kommunikation: Lokale Sehenswürdigkeiten, Geschäfte, Hotels oder Restaurants im Sichtfeld werden mit Zusatzinformationen angereichert, freie Plätze in Parkhäusern oder die preisgünstigste Tankstelle kenntlich gemacht.
Virtuelle Reisebegleiter
Nissan hat auf der vergangenen CES die „Invisible-to-Invisible-Technik“ präsentiert, die viele dieser Ansätze aufgreift. Doch das System kann nicht nur die unmittelbare Umgebung des Fahrzeugs erfassen, sondern mittels Sensoren und Car-to-X-Kommunikation auch genau in einem 3D-Modell kartieren, was sich hinter einem Gebäude oder der nächsten Kurve befindet, beispielsweise andere Fahrzeuge oder Personen. Ebenso kann die Technologie Fahrer und Passagiere mit Familie, Freunden oder Kollegen verbinden, die als dreidimensionale, realitätserweiternde Avatare auftreten und Gesellschaft leisten. Die Verschmelzung von Realität und digitaler Welt nimmt mit autonomen Fahrzeugkonzepten noch weiter Fahrt auf. Beim „Autonomous Living Space Cabin“ von Panasonic avanciert der Innenraum dafür zu einer Info- und Entertainment-Kaspel. Die Fenster sind dank OLED-Technologie durchsichtige Touchscreens, selbst der Dachhimmel ist als Bildschirm konzipiert. Neben Entertainmentinhalten und Cloud-Diensten kann das vernetzte Auto fortwährend Informationen zur Umgebung einblenden, die sich wiederum per Fingerwisch vom Fenster auf die individuellen Tablets schieben lassen.
Von AR und VR zu XR
Für die neuesten Fahrzeuggenerationen ist gerade der Entertainmentcharakter von VR attraktiv. Beifahrer und Passagiere im Fond des Audi e-tron werden künftig mit einer VR-Brille Filme, Videospiele und interaktive Inhalte realistischer erleben. Das Headset gleicht sich dabei permanent mit den Bewegungsdaten des Autos ab: Position, Geschwindigkeit, Lenkung, Beschleunigung und Bremsen des Fahrzeugs werden mit der virtuellen Umgebung in Verbindung gebracht. Extended Reality (XR) nennt sich das und ist der Überbegriff für Virtual Reality und Augmented Reality durch die zusätzliche Datendimension. Beschleunigt der Wagen, geht es auch beim Gaming oder Stream rasanter zu. Audi hat für diese Technologie das Start-up Holoride mitgegründet. „Auf diese Weise schaffen wir nicht nur eine perfekte bewegungssynchronisierte Reise durch virtuelle Welten, sondern auch etwas radikal Neues, das die Passagiere im Fond in einer noch nie dagewesenen Weise unterhält“, sagt Nils Wollny, CEO von holoride. Ein positiver Nebeneffekt: Durch die Synchronisation mit den Fahrbewegungen sinkt gleichzeitig das Risiko von Reiseübelkeit. Über einen offenen Plattformansatz sollen in Zukunft auch andere Autoherstellern und Content-Produzenten interaktive XR-Formate hierüber anbieten. In wenigen Jahren soll die Innovation in Serie gehen – für mehr Lebenszeit statt Fahrzeit.